Flyers
Bei Tagesanbruch regnen sie vom Himmel. Sie wehen über die Befestigungsmauern, fliegen radschlagend über die Dächer und flattern in die Schluchten zwischen den Häusern. Ganze Straßen sind von ihren Wirbeln erfüllt, weiß blitzen sie auf dem Pflaster. Dringende Mitteilung an die Bewohner dieser Stadt, steht auf ihnen. Begeben Sie sich sofort aus offene Land.
By dawn, they were raining from the sky. They glided across the fortification wall, twirled over the roofs and fluttered in the gaps between the houses. The whole street was filled with them, they painted the cobble road white. An urgent message to the citizens of this city, On it said. Please leave any open land at once.
Die Flut steigt. Klein, geld und bucklig hängt der Mond am Himmel. Auf den Dächern des strandhotels im Osten und in den Gärten dahinter lädt ein halbes Dutzend amerikanischer Artillerie-Einheiten ihre Mörser mit Brandgranaten.
The tide rose. The moon, small, golden, hanged in the sky. Over the roofs of the beach hotel in the east and in the garden behind it, half a dozen American units were loading their planes with grenades and mortars.
Bombs
Sie überqueren den Kanal um Mitternacht. Es sind zwölf, und sie sind nach Liedern benannt: Stardust und Stormy Weather, In the Mood und Pistol-Packin’ Mama. Das Meer gleitet tief unter ihnen her, übersät mit zahllosen weißen, zackigen Schaumkronen. Bald schon können die Navigatoren die flachen, mondbeschienenen Umrisse von Inseln ausmachen.
They crossed the canal at midnight. It was twelve, and they started naming songs: Stardust and Stormy Weather, In the Mood and Pistol-Packin’ Mama. The sea was getting deeper under them, with bits of white crests floating. Soon could the navigators draw out the flat, moon-lit outlines of different islands.
Frankreich.
France.
Funkgeräte knister. Bedächtig, fast gemächlich verlieren die Bomber an Höhe. Rote Lichtstrahlen steigen von den Flugabwehrstellungen entlang der Küste auf. Dunkle Schiffswracks tauchen auf, versenkt oder zerschossen, eines mit abgetrenntem Bug, ein zweites brennt flackernd. Auf einer weit der Küste vorgelaterten Insel rennen verschreckte Schafe zwischen Felsen umher.
Radios were rustling. The bombers drop slowly, almost gently from above. Red lights ascent from the antiaircrafts along the coast. Dark shipwrecks suddenly appeared, sank or destroyed, a few with separate pieces, another flickering with fire. On another side of the coast, scared sheep were running between rocks.
In jedem Flugzeug sitzt ein Bombemschütze, sieht durchs Zielfenster und zählt bis zwanzig. Vier, fünf, sechs, sieben. Für die Schützen sieht die näher kommende, ummauerte Stadt auf ihrer granitenen Landzunge wie ein fürchterlicher Zahn aus, schwarz und gefährlich, ein letzter Abszess, der weggeschnitten werden muss.
In every aircraft sat a bombardier, who looks through the scope and counts to twenty. Four, five, six, seven. For the bombardiers, the approaching and unguarded city on their granite headland looked like a scary tooth, black and dangerous, a last abscess, that had to be cut.
The Girl
In Ecke der Stadt, in dem hohen, schmalen Haus mit der Nummer 4 in der Rue Vauborel, kniet die blinde sechzehnjährige Marie-Laure LeBlanc im fünften und obersten Stock über einem niedrigen Tsich, der ganz von einem Modell bedeckt ist. Es ist eine Miniaturasgabe der Stadt, in der sie kniet, mit maßstabsgetreuen Nachbildungen der Häuser, Läden und Hotels innerhalb der Stadtmauern. Hier ist die Kathedrale mit dem durchbrochenen Turm, dort das wuchtige alte Château von Saint-Malo, und rundum ranken sich die Reihen zum Meer gewandter Häuser mit ihren Schornsteinen. Ein schmaler hölzerner Steg ragt von der Plage du Môle ins Wasser, über dem Fischmarkt wölbt sich ein zartes, netzartiges Dach, und auf den kleinen öffentlichen Plätzen stehen winzige Bänke, kaum größer als Apfelkerne.
In a corner of the city, in a tall, narrow how with the number 4 in Rue Vauborel, the blind, aged sixteen girl Marie-Laure LeBlanc kneeled on the fifth and highest floor next to a table that is occupied with a model. It’s a model of the city, with scaled replications of houses, shops and hotels inside the city wall. Here is the cathedral with the tower, there the massive, old chateau of Saint-Malo, and all around the model, she was counting the number of houses near the sea with their chimneys. A narrow, wooden bridge went from the Plage du Mole in the water, a delicate, net-like roof arched over the fish market.
Marie-Laure fährt mit den Fingerspitzen über die zentimeterbreite Brüstung oben auf der Mauer, die einem unregelmäßigen Stern um das Modell zeichnet. Sie findet die Öffnung auf der Mauer, wo die vier Böllerkanonen aufs Meer hinausdeuten. «Bastion de la Hollande», flüstert sie, und ihre Finger wandern eine kleine Treppe hinunter, zur anderen Seite. «Rue des Cordiers. Rue Jacques Cartier».
Marie-Laure went through the centimeter-wide railing above the wall with her fingers. She found the opening on the wall, where the four saluting guns were facing the sea. «Bastion de la Hollande», she whispered, and her finger wandered a stair down, to the other side. «Rue des Cordiers. Rue Jacques Cartier.»
In einer Ecke des Zimmers stehen zwei verzinkte, bis an den Rand mit Wasser gefüllte Eimer. Fülle sie, wann immer du kannst, hat ihr Großonkel gesagt, und die Badewanne im dritten Stock auch. Wer weiß, wann das Wasser wieder versiegt.
In a corner of the room, there were two zinc-coated-filled-to-the-top water bottles. Fill them whenever you can, her grandfather had said that, and the bathtub on the third floor too. Nobody knows, when the water will run out again.
Ihre Finger wandern zurück yum Turm der Kathedrale. Nach Süden yum Tor von Dinan. Den ganyen Abend durchstreift sie das Modell und wartet auf ihren Großonkel Etienne, dem das Haus gehört. Gestern Nacht ist er weggegangen, als sie schlief, und noch nicht zurückgekommen. Und jetzt wird es wieder Nacht, der Zeiger hat das Zifferblatt ein weiteres Mal umkreist, in den Häusern ringsum ist es ruhig, und sie kann nicht schlafen.
Her fingers wandered back to the tower of the cathedral. Then going south, to the door of Dinan. She has been going through this model for the whole evening and waiting for her uncle Etienne, to whom the house belonged to. He went out yesterday evening, when she had been sleeping, and hasn’t returned home. And now, it’s dark again, the Americans distributed the flyers a second time, the houses around her all quiet, and she couldn’t sleep.
Sie hört die Bomber, als sie bis auf fünf Kilometer herangekommen sind. Ein lauter werdendes Summen. Das Rauschen in einer Muschel.
She heard the bombs when she reached five kilometers. A loud buzz. It sounded like noise in a shell.
Als sie das Schlafzimmer öffnet, wird der Flugzeuglärm lauter. Ansonsten ist die Nacht schrecklich still: keine Motoren, keine Stimmen, kein Geklapper. Keine Sirenen, keine Schritte auf dem Pflaster. Nicht mal Möwen sind zu hören. Nur die Flut, die einen Block weiter und fünf Stockwerke tiefer gegen den Fuß der Stadtmauer schlägt.
When she opened the bedroom door, the noise from the aircrafts got louder. But the night was frighteningly still: no motors, no sound, no rattle. No sirens, even seagulls couldn’t be heard. Only the tide, which was a block away and five-floor deeper than the city wall.
Und noch etwas.
And something else.
Da raschelt etwas. Leise und sehr nahe. Sie öffnet den linken Fensterladen und fährt mit der Hand hinaus über die Latten des rechten. Da steckt ein Blatt Papier.
Something rattled. Quiet and very close. She opened the window on the left and went outside with her hand over the bars on the right. A piece of paper was there.
Sie hält es sich an die Nase. Es riecht nach frischer Tinte. Vielleicht auch Benzin. Das Papier ist trocken, es hat nicht lange dort gesteckt.
She held it close to her nose. It gave off fresh tints. Maybe also petrol. The paper was dry, it hasn’t stayed there for too long.
Marie-Laure steht zögernd am Fenster, im Strümpfen, das Zimmer im Rücken. Muscheln und Schneckenhäuser sind auf dem Schrank aufgereiht, Steine entlang der Fußleiste. Ihr Stock steht in der Ecke, der große Roman in Blindenschrift liegt umgedreht auf dem Bett. Das Dröhnen der Flugzeuge wird lauter.
Marie-Laure stands hesitantly at the window, in stockings, in the room back. Shells and snail shells are lined up on the cupboard, stones along the baseboard. Her stick is in the corner, the big novel in Braille lies upside down on the bed. The roar of the planes becomes louder.
The Boy
Fünf Straßen weiter nördlich wird der achtzehnjährige, weißhaarige deutsche Gefreite Werner Hausner von einem schwachen, abgehackten Brummen geweckt. Kaum mehr als ein Summen. Fliegen an einer weit entfernen Fensterscheibe.
Wo ist er? Der süße, leicht chemische geruch von Gewehröl hängt in der Luft, der Holzgeruch frisch gezimmerter Granatenkisten, das Mottenkugelaroma alter Bettwäsche - er ist in einem Hotel. Den Hôtel des Abeilles, dem Hotel der Bienen.
Es ist immer noch nacht. Immer noch früh.
Vom Meer her erklingen Pfiffe und Explosionen. Flak-Feuer.
Der Feldwebel des Luftabwehrkommandos läuft über den Korridor zur Treppe. «Runter in den Keller», ruft er über die Schulter. Werner schaltet seine Lampe ein, rollt die Decke in sein Bündel und macht sich auf den Weg.
Vor noch gar nicht so langer Zeit war das Hôtel des Abeilles ein fröhlicher Ort, hellblaue Fensterläden schmücken die Fassade, im Cafe gab es Austern polierten Gläsern. Das Hotel hatte einundzwanzig Gästezimmer, alle mit Seeblick, und der Kamin in der Halle war groß wie ein Lastwagen. Wochenendausflügler aus Paris nahmen hier einen Aperitif, vor ihnen waren es gelegentlich Abgesandte der Republik gewesen, Minister und Vizeminister, Äbte und Admiräle, und in den Jahrhunderten davor windgegerbte Korsaren: Mörder, Plünderer, Piraten, Seefahrer.
Noch früher, bevor es zu einem Hotel wurde, vor gut fünfhundert Jahren, war es das Heim eines wohlhabenden Privatiers gewesen, der das Schiffekapern aufgegeben hatte, um die Bienen auf den Weiden außerhalb von Saint-Malo zu studieren, seine Beobachtungen in Notizbüchern festzuhalten und den Honig direkt aus den Waben zu essen. In den aus Eichenholz geschnitzten Wappen über den Türstöcken sind immer noch Hummeln zu erkennen, und der mit Efeu überwucherte Brunnen im Hof hat die Form eines Bienenstocks. Am besten gefallen Werner fünf verblichene Fresken an den Decken der schönsten Räume oben, auf denen kindsgroße Bienen vor einem blauen Hintergrund schweben, große, faule Drohnen und Arbeiterinnen mit durchscheinenden Flügeln, und über einer achteckigen Badewanne windet sich eine einzelne, fast drei Meter langen Königin über die Decke. Sie hat zahllose Augen und einen pelzigen Leib.